Marina und Thaís

Thais Medieros, "Triptico", Meta Theater

Diese Reportage ist im Rahmen des Kurses “Film Meets Print” an der Deutschen Journalistenschule entstanden und wurde auf dem Dok-Film Festival vorgelesen. Die Autorin, Leonie Sontheimer, ist Teil des journalistischen Kollektivs Collectext.

Während in Bonn der Weltstar Marina Abramović gefeiert wird, ringt Thaís Medeiros in München um Aufmerksamkeit. Eine Reise in zwei Welten des Performance-Kosmos.

Applaus hat viele Facetten. Manchmal klingt er wie ein Sommergewitter, das auf den Asphalt runterprasselt. Manchmal wie eine Silvesternacht, in der Raketen in den Himmel schießen. Manchmal wie Kuhkacke, die auf Stallboden klatscht.

Der Applaus, der Marina Abramović am 19. April in Bonn auf ihre Bühne begleitet, klingt wie der Ozean – gleichmäßig, voll, tragend. Abramović ist damit vertraut. Sie nimmt den Applaus auf, ohne große Gesten, ohne strahlendes Lächeln. „Guten Abend. Ich bin ein Putzfrau“, sagt die weltbekannte Performance-Künstlerin, bei der Eröffnung der Ausstellung in der Bundeskunsthalle, die ihr Lebenswerk würdigt.

Kein Husten mehr, kein Stühlerücken, kein Flüstern. 500 Menschen blicken gebannt auf die Bühne. Abramović trägt schwarz auf schwarz: Einen Rock, der bis auf den Boden fließt, eine bis zum Hals zugeknöpfte Bluse, die glatten Haare, ebenfalls schwarz, hinter die großen Ohren gestrichen. Ihr Make-Up ist dezent, kein Schmuck, nur die roten Fingernägel geben den Zuschauer kurz Halt, bevor sie sich in den Augen von Abramović verlieren. Die Augen. Sie verkünden Abramovićs bedeutendste Botschaft. Sie sagt: „Es ist wirklich wichtig, sich zu konzentrieren. Es ist wirklich wichtig, zu verstehen, wenn du performst. Präsent zu sein, hier und nirgendwo sonst.“

Thais Medieros, "Triptico", Meta TheaterSechs Tage später. Thaís Medeiros verharrt für ein paar Minuten, ehe sie die kleine Bühne in einem Münchner Vorort betritt. Medeiros ist ganz in weiß gekleidet. Die Hose schmiegt sich an die Beine und betont ihren muskulösen, kleinen Körper. Die rot gefärbten Haare hat sie sich aus dem Gesicht gebunden, eine Strähne hat sich gelöst und hängt in ihrer Stirn. Medeiros bittet wortlos um Erlaubnis und tritt auf die Bühne. Gebannt verfolgen elf Zuschauer, wie Medeiros einen Stuhl an der Lehne packt und ihn langsamen, konzentrierten Schrittes nach links über die Bühne schleift.

Aus einem der hinteren Stuhlbeine fließt dickflüssige, rote Farbe und hinterlässt eine Spur auf der weißen Papierbahn, die auf dem Boden ausgelegt ist. Medeiros Augen werden glasig, als könne jederzeit eine Träne heraustreten. Die Lippen sind leicht geschürzt, das ganze Gesicht unter Spannung. Ihr Blick ist auf einen magischen Punkt jenseits des Theaters gerichtet. Dennoch fühlt sich Medeiros mit dem Publikum verbunden. Zum Ende der Aufführung von Triptico schlägt sie auf dem harten Boden eine Rolle vorwärts und bleibt einige Sekunden liegen – Arme und Beine von sich gestreckt. Klatschen. Wären sie 500 statt nur elf, klänge es vielleicht wie der Ozean. So sind es kleine Wellen, die gegen eine Kaimauer plätschern.

Zwischen den beiden Auftritten liegen sechs Tage, sechs Autostunden – und Welten. Auf der einen Seite der Weltstar Marina Abramović, die mit ihrer Retrospektive alle Feuilletons stürmt. Auf der anderen Seite Thais Medeiros, die ihre Performances mit kommerzieller Malerei querfinanziert. Medeiros lässt Methoden aus Theater und Kung-Fu in ihre Arbeit einfließen. Der Name Abramović steht synonym für jede Art von Performancekunst. Abramović, die Vorzeigekünstlerin, die Ikone ist 71 Jahre alt. Mit Anfang 20 begann sie in Serbien Texte, Zeichnungen und Konzepte zu veröffentlichen. Ab 1973 zeigte sie Performances, einige erregten weltweit Aufmerksamkeit. Die Karten für einen Workshop, den sie im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeiten in der Bundeskunsthalle gab, waren in weniger als 20 Sekunden ausverkauft.

„Marina hat die Performance als Genre etabliert“, sagt die 57-jährige Brasilianerin Thaís Medeiros. Für drei Monate residiert sie in Feldafing in einer alten Villa, als Gast der Stadt München und des Goethe-Instituts. Das Festival Magdalena München, auf dem sie mehrere Performances zeigt, möchte Frauen in Theater und Performance sichtbarer zu machen. „Es gibt viele Frauen auf der Bühne. Aber sie erzählen nur selten ihre eigenen Geschichten. Meistens sprechen sie ein Skript, das von Männern geschrieben wurde“, erklärt Helen Varley Jamieson, die künstlerische Leiterin In ihrer zweiten Performance Tapete Manifesto thematisiert Medeiros die Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika.

Tapete Manifesto. Foto: Raquel RoGekrümmt liegen darin Medeiros und vier weitere Frauen auf zwei weißen Stoffbahnen mit aufgemalten Unterhosen und Skeletten. Die Frauen tragen schwarze Kleider, Schuhe mit Absätzen und rote Tücher über dem Gesicht. Ein Trommelschlag durchbricht die Stille. Nach fünf Sekunden ein weiterer Trommelschlag. Die Frauen regen sich nicht. Dann schlägt der Percussionist Trommel und Becken gleichzeitig. Die Frauen heben ihre Knie und spreizen ihre Beine. Der Percussionist drückt eine Taste auf seinem Laptop, ein Gewirr von Stimmen, sphärische Sounds. Die Zuschauer, die am Rand der Bühne sitzen, werden unruhig, wenden ihre Blicke ab von den Frauen, die da liegen, mit gespreizten Beinen. Hinter der Bühne hängt ein Plakat: „Haltet Eure Ballkleider hoch, Frauen. Wir gehen durch die Hölle.“

Am Ende gehen die fünf Künstlerinnen mit Schildern durch den Raum. „Alle anderthalb Stunden geschieht ein Femizid in Brasilien“, steht auf einem. „40 Prozent der Femizide werden von den Partnern begangen“ auf einem anderen. Die fünf Frauen legen ihre Schilder direkt vor die Füße der 30 Zuschauer. Dann wird das Licht im Saal gedimmt. Applaus, diesmal wie ein Sommerregen. Erst ein paar Tropfen, dann setzt der Regen ein und entspannt die aufgeladene Luft. „Wenn wir das Stück in Brasilien aufführen, dauert es manchmal 20 Minuten, bis jemand die Stille bricht“, erzählt Medeiros. Am liebsten performt sie draußen in der Öffentlichkeit. Dort fühle sie die ganze Energie eines Ortes. Und sie erreicht Menschen, die niemals in ein Theater kommen würden.

Performance-Kunst ist oft politisch. Und sie lebt immer von Extremen und Tabubrüchen: Gewalt, Sex, Tod. Und sie ist nicht einstudiert wie ein Theaterstück. Sie reagiert auf die Stimmung der Zuschauer, spielt mit ihr. Marina Abramović versteht sich nicht als politisch. Wenn sie in ihrer Arbeit etwas erforscht, dann ist es der Mensch. 1974 stellte sie sich sechs Stunden lang in einem Studio in Neapel der Öffentlichkeit als Objekt zur Verfügung. Auf einem Tisch lagen 72 Gegenstände, mit denen das Publikum sie berühren, ja sogar verletzen konnte: Eine Rose, Parfüm, Honig, Brot, Nägel, Metallketten und ein geladener Revolver. Abramović: „Ich war nicht daran interessiert, zu sterben. Aber mich interessierte, wie weit das Publikum gehen würde, wenn die Künstlerin gar nichts macht.“

Abramović bereitet ihre Performances jahrelang vor. Ihre letzte fand 2014 in London statt. Die nächste ist für 2020 angekündigt. Nach der Eröffnungsrede in Bonn verschwand sie in einer Traube von Fotografen und Fans, die sie festhalten und berühren wollten. Die persönliche Begegnung mit Abramović, das war auch bei ihrer New Yorker Performance 2010 The Artist is present für viele Besucher ein berührendes, auswühlendes Erlebnis.

Thaís Medeiros hat in den drei Monaten in München an fünf Diskussionen teilgenommen, einen Workshop geleitet und sieben Performances aufgeführt. Nach Triptico steht sie für eine Minute allein neben der Bühne und vollführt ein innerliches Ritual, um den Raum so zurückzulassen, wie sie ihn betreten hat. „Ich habe nicht die Illusion, dass meine Arbeit auf romantische Art die Welt
verändert“, sagt sie.

Von Leonie Sontheimer